Lust der Verantwortung

Ein Kilo Rindfleisch? „Macht zehn Kilo Kohlendioxid.“ –
Der Klimaexperte Hermann Ott berechnet das Gewicht von Umweltsünden aufs Gramm genau. Er denkt, dass die Menschen
den Klimawandel in den Griff bekommen – wenn sie anders leben.
Ein Einkaufsbummel über den Hackeschen Markt
Von Stefan Jacobs und Marc Neller

Er hört sie oft, diese beinahe unschuldige Frage. Wie jeder. Im Supermarkt,
im Restaurant, auf dem Wochenmarkt.

Darf’s noch etwas sein?

Nein, müsste er in vielen Fällen antworten. Denn er weiß Dinge, von denen die Fragesteller in vielen Fällen vermutlich nicht einmal etwas ahnen. Es gibt Momente, in denen für Hermann Ott die an sich harmlose Frage ihre Unschuld verliert. Er kann dann nicht mehr nur daran denken, ein Stück Fleisch oder Käse zu kaufen. In solchen Momenten schießen Ott Zahlen in den Kopf. Es sind Zahlen, mit denen er sich tagtäglich beschäftigt und die zum Beispiel Auskunft darüber geben, wie die Herstellung von Lebensmitteln das Weltklima verändert. Und so kommt es, dass für Ott auf einem Berliner Wochenmarkt hinter den Auslagen der Gemüse-, Käse- oder Fleischtheken zuweilen eine Matrix von Umweltschäden aufleuchtet, die ihn eigentlich missmutig stimmen müsste. Eigentlich.

„Schöner Spargel aus Griechenland!“, ruft der Gemüsemann, „zwei Päckchen für dreifünfzig!“ Ott mustert das Angebot. Dafür, wie viel er weiß, wirkt er erstaunlich fröhlich. Dr. Hermann E. Ott, 45 Jahre alt, leitet das Berliner Büro des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie, er ist Autor mehrerer Fachbücher und einer der renommiertesten Klimaexperten des Landes. Ott berät die Bundesregierung, Kommunen, Umweltverbände, Unternehmen.

Jetzt, da Ott auf dem Hackeschen Markt in Berlin-Mitte steht, könnte er anmerken, dass für jedes Kilo verkaufsfertigen Spargel im Winter zehn Mal so viel Kohlendioxid anfällt wie in der Spargelsaison. Knapp 15 Kilo statt 1,5 Kilo Kohlendioxid – jener Stoff, der das Erdklima bedroht.

Aber Ott sagt erst einmal nichts. Er ist kein Eiferer. Er weiß, dass kein Mensch leben kann, ohne „Klimakiller“ zu produzieren, wie Kohlendioxid seit einigen Jahren in vielen Medien heißt. Allerdings weiß er auch, dass statistisch gesehen jeder Mensch zurzeit durchschnittlich vier Tonnen CO2 im Jahr verursacht –
zu viel. Erst wenn sich der Schnitt um etwa ein Viertel senkte, lebte die Menschheit so, dass die Erderwärmung einigermaßen erträglich bliebe.

Ott kann vorrechnen, warum das alles so ist, und erklären, was aus seiner Sicht zu tun ist. Denn davon ist er überzeugt: Die Katastrophe lässt sich vermeiden.

Hauptverursacher des Klimawandels sind die reichen Länder. Die etwa 80 Millionen Deutschen pusten mindestens ebenso viel CO2 in die Atmosphäre wie 700 Millionen Afrikaner. Im Schnitt verursacht jeder Deutsche etwas mehr als zehn Tonnen pro Jahr – trauriger Spitzenplatz im EU-Vergleich, weltweit sind nur eine Handvoll Staaten noch schlechter.

Der Klimawandel bedroht die Menschheit so sehr wie Kriege. – Diesen Satz hat Ban Ki Moon gesagt, der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Es ist ein Satz, der auf den Fluren der Macht inzwischen nicht mehr ungehört verhallt – und bald vielleicht auch auf den Marktplätzen.

Ott sieht Möglichkeiten, mit relativ geringen Mitteln etwas beizutragen. Und vielleicht ist es das, was einen Marktbummel mit ihm angenehm macht.

Ott steuert einen Fleischstand an. Ein Fleischstand ist ein gutes Beispiel. Die Deutschen essen gerne und viel Fleisch, so viel wie kaum jemand sonst auf der Welt. Ott ortet Rindersteaks aus konventioneller Tierhaltung. Rindersteak hat, man muss es so hart sagen, eine miserable Energiebilanz. Für jedes Kilo, das in einer Fleischtheke zum Kauf angeboten wird, fallen zehn Kilo Kohlendioxid an: beim Düngen der Futterfelder, beim Transport des Futters, beim Heizen des Stalls, beim Betrieb der Schlacht-, Pack- und Etikettiermaschinen, beim Ausfahren des Fleischs zum Händler. Schon vor der Zubereitung ist ein Stück Rindfleisch damit so klimaschädlich wie etwa 70 Kilometer Autofahrt. „Das Fleisch aus intensiver Wirtschaft“, sagt Ott, „ist am schlimmsten.“ Deutsche Tiere, die mit brasilianischem Soja gefüttert werden, für dessen Anbau vielleicht obendrein noch Regenwald abgeholzt wurde. Der käme noch hinzu.

Das in Freiburg ansässige Öko-Institut hat Durchschnittswerte dafür errechnet, wie viel Kohlendioxid für die Herstellung eines Kilogramms Lebensmittel im Handel anfällt. Fleisch schneidet ziemlich schlecht ab. Käse auch. Seine Herstellung setzt 56-mal mehr Treibhausgase frei als die Gemüsezucht. Fleisch, 34-fache Menge, belegt Platz zwei in dieser Statistik. Die Erklärung ist simpel: Für jeden Liter Milch und jedes Kilogramm Fleisch verfüttern Bauern eine vielfache Menge an Getreide. Ihr Vieh verursacht einen Großteil des deutschen Ausstoßes an Methan: eine einzige Milchkuh produziert davon jeden Tag 235 Liter. Methan ist ein etwa 20-mal stärkeres Klimagas als Kohlendioxid.

Für Fleisch-, Käse- und Milchgenießer wäre das nun der Moment, sich schlecht zu fühlen. Gut, in so einem Augenblick neben Hermann Ott zu stehen. Es gibt, sagt Ott, ein paar einfache Rezepte, um den mit Tonnen von Klimagasen und Schuldgefühlen bepackten „Umweltrucksack“ klein zu halten. Eines davon:
„Wir müssen ein bisschen zurück zu Oma.“

Oma hat die Woche über Gemüse gegessen und sonntags Fleisch. Sie hat Blumen im Topf gehabt statt in der Vase, hat den kleinen Einkauf mit dem Fahrrad erledigt. Oma ist zudem weder dienstlich von Berlin nach Frankfurt geflogen noch zum Vergnügen für ein langes Wochenende nach London. Wer darauf verzichtet, das Licht ausmacht, bevor er das Büro verlässt, und seine Wohnung im Winter nicht auf T-Shirt-Temperatur heizt, hat schon eine Menge getan, um die Menschheit zu retten. Es hat etwas Tröstliches, Hermann Ott zuzuhören.

Er sagt, viele kleine Schritte könnten helfen. Umso besser, wenn der Gemüsehändler irgendwann darauf verzichtet, chinesische Äpfel oder ecuadorianische Bananen anzubieten. Oder afrikanische Weintrauben. Die werden, anders als Bananen, nicht mit dem Schiff nach Europa gebracht, sondern mit dem Flugzeug. Dadurch fallen elf Kilo Kohlendioxid für den Transport eines Kilos Trauben an.

Der Gemüsehändler auf dem Hackeschen Markt erzählt Ott, dass die spanischen Erdbeeren bei seinen Kunden nicht gerade ein Renner seien und dass sie peruanischen Spargel schon mal ablehnen. Nicht wegen des Klimas allerdings, sondern weil sie fürchten, die Sachen könnten stark gespritzt sein. Den meisten sei es bisher aber egal, ob die Birnen aus Chile kommen oder aus Brandenburg. Apropos, dort würden ja jetzt die ersten Bauern ihre Felder von unten heizen, damit der Spargel schneller wächst.

„Absurd“, sagt Ott, dessen Gesichtszüge kurzzeitig einfrieren. Er fasst sich schnell. Sein Blick wandert die Fassade eines sanierten Altbaus, gleich neben dem Markt, nach oben. „Schwer zu sagen, wie gut das Gebäude saniert ist. Kann aber sein, dass es immer noch fast 20 Liter Heizöl pro Jahr und Quadratmeter braucht.“ Das wäre ein Drittel weniger als vor der Sanierung, aber immer noch sieben Mal so viel wie ein neu gebautes Niedrigenergiehaus. Acht von zehn Wohnungen in Deutschland sind Altbauwohnungen. Längst nicht überall sind Wände gut isoliert und Heizungen auf dem Stand der Technik.

Ott könnte jetzt noch von Energiesparlampen sprechen, die ein Fünftel des Stroms verbrauchen, die eine Glühbirne benötigt. Von Kühlschränken der Energie-Effizienzklasse A+, von Waschmaschinen, die ein Drittel des Verbrauchs sparen, wenn man mit einer Temperatur von 60 Grad wäscht statt mit 95. Aber davon haben Öko-Aktivisten schon oft geredet. Ott dagegen spricht gerade lieber über chinesische Plastikvasen.

Er hat sie vor einem Haushaltswarenladen gleich neben dem Markt entdeckt, das Stück für 3,99 Euro. „Könnte sein, dass das früher Joghurtbecher in Deutschland waren“, sagt er. Es gab eine Zeit, in der recycelnde Menschen automatisch in den Himmel zu kommen schienen und Wegschmeißer in die Hölle. Die Vasen sind ein Beispiel dafür, dass dieses Schema nur bedingt taugt: Ausgewaschen, in die gelbe Tonne geworfen, zu Ballen gepresst, im Lastwagen zum Hamburger Hafen gefahren, nach China verschifft, dort eingeschmolzen, geformt, verpackt und zurückgebracht – all das verbraucht Energie. Und wer Energie verbraucht, verursacht Kohlendioxid. Trotzdem, sagt Ott, sind die Vasen nicht die schlimmste anzunehmende Sünde: „Immer noch besser, als wenn sie beim Versandhaus online gekauft und einzeln ausgeliefert worden wären.“ Ott lächelt. Und dann merkt er, dass er lächelt. Er sagt: „Ich bin ja Optimist, sonst würde ich meinen Job nicht machen.“

Trotzdem muss er, das Stichwort ist nun mal gefallen, noch mal auf Joghurt zu sprechen kommen. Die Zutaten eines Erdbeerjoghurts sind, zusammengenommen, 9115 Kilometer gereist. Das steht in einer Studie seines Instituts aus dem Jahr 1997. „Interessantes Detail, nicht wahr?“ Unentwegt rollen Straßenbahnen am Marktplatz vorbei, auf der Stadtbahntrasse rumoren die Züge. Für Ott ist jeder von ihnen ein Lichtblick: „Solange man nicht gerade mit Tempo 270 im ICE verreist, verbessert der öffentliche Verkehr die CO2-Bilanz gegenüber dem Auto gewaltig. Im Stadtverkehr können es bis zu 90 Prozent sein.“

Gerade als Ott noch ein paar aufmunternde Worte verlieren will, rollt ein Geländewagen in die Fußgängerzone. Zwei Tonnen Blech, ein Kilo Kohlendioxid für eine Runde ums Karree. Wenn man es nüchtern betrachtet.

„Ein Grundproblem ist, dass wir unser Selbstwertgefühl an Dinge knüpfen“, sagt Ott. „Nicht die Bildung zählt, sondern das Auto oder der eigene Computer der Kinder.“ Einen neuen Lebensstil fände Ott gut: Mal zwei Stunden mit einem Buch auf dem Sofa sitzen, statt unentwegt unterwegs zu sein. Oder wenn schon, dann gelegentlich zu Fuß.

Ein paar Meter hinter ihm lassen sich gerade die ersten Gäste auf den Stühlen vor dem Restaurant in den S-Bahn-Bögen nieder. Vier Heizpilze stehen im Wind, sie zu wärmen: Zusammen gut 1,3 Tonnen CO2 pro Monat bei zehn Stunden Betriebszeit am Tag. In den Heizpilzen sieht Ott ein Symbol dafür,
wie man sich eine künstliche Welt auf Kosten der realen erschaffen kann. Die Chance sieht Hermann Ott im Ende der Verschwendung und im Umstieg auf die Energie aus Sonne, Wind, Erdwärme und Biomasse. Es ist eines von drei Szenarien, die Ott für möglich hält. Das zweite: Neue Energiequellen werden erschlossen, aber die Verschwendung von Ressourcen wie Wasser und Ackerland bedroht große Teile der Menschheit, Naturkatastrophen häufen sich. Das dritte Szenario: Das Problem ignorieren und aufrüsten, um den Besitzstand der Reichen zu wahren und sich gegen den Ansturm von Millionen Flüchtlingen zu wappnen.

Er wolle niemandem ein schlechtes Gewissen einreden, man könne ja nicht bei jedem Handgriff überlegen, was man dem Klima gerade antue. Oder? „Vielleicht wären Eiferer doch nicht schlecht. Zumindest für eine Übergangszeit. Der gerade angefangene Hype geht auf jeden Fall in die richtige Richtung.“ Zwei Grad Erderwärmung gelten als einigermaßen beherrschbar. „0,7 Grad haben wir schon“, sagt Ott. „Bleiben noch 1,3.“

Quelle: 070311 der tagesspiegel